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Ausgabe vom Dienstag, 29. Mai 2001
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Zeit statt Geld
Im modernen Erwerbsleben geht es um Geld, und fast niemand hat Zeit.
Beim Tauschnetz geht es um Zeit und gerade nicht um Geld. Dennoch sollen
alle bekommen, was sie brauchen. Einer
bietet Unterricht in Musiktheorie und Harmonielehre an, eine andere führt
in die Arbeit mit dem PC ein. Handkehrum sucht jemand einen Babysitter,
ein anderer die Mithilfe beim Backen und Herstellen von Brot. Schon mit
diesen wenigen Beteiligten ist ein kleiner Markt aufgebaut und ergeben
sich mehrere mögliche Tauschbeziehungen. Es sind Beispiele aus der
aktuellen Ausgabe der Marktzeitung, die vom Luzerner Tauschnetz alle zwei
Monate in Printform veröffentlicht oder auf der Homepage aktualisiert
wird.
Handeln mit Zeit Die Mitglieder des Luzerner
Tauschnetzes bieten auf diese Weise ihre vielfältigen Fähigkeiten an. Wer
etwa bei A eine Stunde Französischunterricht nimmt, hilft dafür B eine
Stunde bügeln oder geht bei C das Velo flicken. Jede Dienstleistung wird
gleich bewertet. Masseinheit ist die aufgewendete Zeit. Bernhard
Häseli, einer der Mitinitianten des Luzerner Tauschnetzes, hat kürzlich
jemanden zwei Stunden lang zum Segeln mitgenommen und dafür von ihm zwei
Stunden Gitarrenunterricht bekommen. Als kirchlicher Sozialarbeiter
schätzt er das Tauschprojekt, weil es Grundzüge trage, die auch Teil
seiner alltäglichen Arbeit seien. «Das Projekt bringt Menschen miteinander
in Beziehung.» Persönlich findet er das Mitmachen beim Tauschnetz
enorm lustvoll. «Ich lerne neue Leute kennen und kann Sachen lernen, ohne
Geld in die Finger zu nehmen.» Direkte wechselseitige Tauschbeziehungen
kommen indes eher selten vor. Stattdessen wird die Zeit über mehrere
Beteiligte getauscht. Deswegen wird «Buch geführt»: Alle Teilnehmenden
haben eine Tausch-Kontokarte, auf der die angebotenen und bezogenen
Stunden von Dienstleistungen eingetragen werden. Damit jemand nicht nur
anbietet oder nur bezieht, gibt es die Einschränkung, dass der Saldo
sowohl auf der Guthabenseite wie auf der Schuldenseite 20 Stunden nicht
überschreiten soll.
250 Tauschbeziehungen Ein anderer Mitinitiant des
Luzerner Tauschnetzes ist Urs Häner vom Arbeitslosen-Treff im Sentitreff,
in dessen Umfeld das Projekt entstanden ist. Den entscheidenden Impuls für
das Experiment gab im Herbst 1998 eine Zukunftswerkstatt zum Thema «Arbeit
neu erfinden», aus der das Pilotprojekt Luzerner Tauschnetz entstand. Und
kürzlich wurde ein Trägerverein gegründet. «Am Anfang waren wir zwölf
Leute. Heute machen über siebzig Personen im Tauschnetz mit.» Für Urs
Häner, der die Tausch-Kontokarten verwaltet, ist das schon ein guter
Erfolg. Rund 250 Tauschleistungen hätten in der Pilotphase stattgefunden.
Ideal wären 150 bis 200 Teilnehmende. Diese Anzahl könnte administrativ
noch bewältigt werden, glaubt Häner, auch wäre dann die Palette
reichhaltig genug.
Gegenwelt Doch die Einrichtung hat auch einen starken
sozialpolitischen und bewusstseinsbildenden Charakter. Sie veranlasst,
über neue Formen von Arbeiten und Leben nachzudenken, sich überhaupt mit
dem Umgang von Zeit auseinander zu setzen. Die Art und Weise, wie man
heute unter dem Diktat des Marktes durch das System hetzt und Ressourcen
verbraucht, muss gewiss nicht die einzige Existenzform des Menschen auf
Erden sein. Für den Sozialethiker Hans Ruh sind Projekte wie das Luzerner
Tauschnetz eine Art «Gegenwelt zur herrschenden Monetarisierung der Zeit».
Dass Zeit mit Geld gleichgesetzt wird, sei eine moderne Idee, führte Ruh
kürzlich an einer Versammlung des Luzerner Tauschnetzes aus. «Früher wurde
die Zeit als etwas Organisches empfunden, das mit den Rhythmen der Natur
verbunden war. Heute ist sie ökonomisiert und wird bewirtschaftet.»
Zeit sparen Irgendwann sei jemand auf die Idee gekommen,
Zeit zu sparen. «Dadurch wurde die Zeit knapp, sie bekam einen Wert, sie
wurde Geld. Diese Entwicklung bringt viele Probleme.» Unsere Körper
hätten sich noch nicht an die bewirtschaftete Zeit gewohnt. «Sicher ist,
dass wir mit dem Zeitsparen daran sind, die Umwelt kaputtzumachen.»
Für Ruh ist deshalb klar: «Wir brauchen einen andern Umgang mit der Zeit.»
Hans Ruh ist seit über dreissig Jahren daran, mit seinen Ideen und
Modellen herkömmliche Denkarten und Abläufe aufzubrechen. Dabei operiert
er weder ideologisch noch marktschreierisch. Er denkt bloss nach, stellt
grundsätzliche Fragen. So kommt er zu Schlüssen und Alternativen, die oft
ebenso überraschend wie nachvollziehbar sind. So plädiert Ruh dafür,
das Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit neu zu ordnen und das
«Tätigsein» des Menschen zum Teil aus der Arbeitszeit
herauszunehmen. Für ihn gibt es zwischen der Arbeitszeit und der Freizeit
ein weites Spektrum von «freier Tätigkeitszeit», wo soziale, individuelle,
kulturelle, betreuerische und ökologische Anliegen und Aufgaben
verwirklicht werden.
«Grundlohn ohne Arbeit» Seit Jahren fordert Ruh die
Einführung eines «arbeitsunabhängigen Grundlohnes» für alle -
beispielsweise 1500 Franken pro Monat. Ein solcher Grundlohn würde die
Voraussetzungen schaffen, dass sich die Menschen wieder mehr Zeit nehmen
könnten für Aufgaben und Tätigkeiten, die heute entweder nicht mehr
rentieren oder an Pillen und Maschinen delegiert werden müssen. Der
Markt, wie er heute laufe, bringe wohl viele Vorteile, aber auch viele
Nachteile, stellt Ruh fest. Soziale und ökologische Probleme erkenne der
Markt nicht. Vor allem aber: «Viele Dienstleistungen, die notwendig sind,
können mit der heutigen Monetarisierung gar nicht mehr erbracht werden.»
Gemeint sind insbesondere Leistungen im Bereich der Pflege, der
persönlichen Zuwendung, der sozialen Aufgaben. Der Sozialethiker hat
sein mehrstufiges Zeitmodell vertieft ausgearbeitet und darüber Bücher
geschrieben. Er ist überzeugt, dass die Gesellschaft der Zukunft
nachhaltiger, präventiver und ethischer handeln muss, um überhaupt
überleben zu können. Dennoch ist auch ihm klar, dass der Markt, so
ungenügend er funktioniert, nicht von heute auf morgen völlig umgepolt
werden kann.
Von unten Ruh denkt nicht in Revolutionen, sondern in
pragmatischen Schritten. «Es braucht ein Gleichgewicht zwischen
ökonomisierter und der nicht monetarisierter Zeit. Der Markt, wie er heute
funktioniert, ist für vieles gut. Aber er darf nicht verabsolutiert
werden. Er schuf Probleme, die wir mit einer rein ökonomisierten Denkweise
nicht lösen können.» Initiativen wie das Luzerner Tauschnetz und
andere vergleichbare Einrichtungen (siehe Kasten) sind für Ruh wichtige
Basisbewegungen, in denen sich neue Formen des Wirtschaftens erproben
lassen. «Wir brauchen solche Gegenströmungen von unten, weil sie zum neuen
Umgang mit der Zeit herausfordern und diesen auch erlebbar machen.»
VON PIRMIN BOSSART
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